13. Internationales Straßentheaterfestival: Fantastische Artisten mit spektakulären Performances
Und von oben winkt der Buga-Zwerg!
Von Leonore Welzin
Das Revolutionärste, was die 13. Auflage des Internationalen Straßentheaterfestivals Brackenheim zu bieten hatte, war Frauenpower aus Belfast. Während Männer noch mit Bällen und Keulen jonglieren, schmeißen die Protagonistinnen des „Snatch Circus“ in der Performance „Snatch & Grab“ („Schnapp und greif“) Tomaten in die Luft, fangen sie mit dem Nacken auf und lassen sie über den Rücken in einen Mixer rollen, wo die Goldäpfelchen zu Tomatensoße püriert werden. Überhaupt haben die Ladies wenig Respekt vor Toastern, Mixern und leeren Sektflaschen. Während Angelique Reckless Ross auf leeren Sektflaschen balanciert, lauert Mish Mash Thoburn, um im richtigen Moment auf ihre Kollegin zu klettern. In luftiger Höhe futtert sie Chips und wirft die leere Tüte einfach weg.
Achtloses Wegwerfen ist denn auch das Stichwort für die nächste Aktion. Zu Meeresrauschen und kreischenden Möwen gibt’s mit großer blauer Plastikplane und Anmerkungen zum Müll im Meer eine umweltkritische Choreo.
Ihre Skills habe sie in Irland während der Aufstände gelernt; daher ihr Credo: „Schneller sein, als die Polizei“ (Mish Mash). Zirkusartistik kombiniert mit feministischem Power-Punk unter freiem Himmel vor dem Brackenheimer Rathaus! „Sagenhaft!“ findet eine Zuschauerin. Von der Empore winkt in Pink der Buga-Zwerg. Das Publikum, von der verglasten Front in ganzer Breite reflektiert, applaudiert voller Begeisterung!
Die 35-minütige Performance ist ein aufsehenerregendes Happening, das sich viele Besucher gern ein zweites Mal angesehen hätten. Doch nach vier Stunden beginnt’s zu regnen. War es schon bei der Ketchup-Orgie „very slippery!“ (Angelique), kann die Rutschpartie, die sich ankündigt, nicht verantwortet werden. Das Publikum verzieht sich.
Ebenfalls vor dem Rathaus und gleichfalls mit Wow-Effekt brilliert die fantastische Boy-Crew „Tridiculous“ aus Berlin mit ihrem „Appetizer“ aus Artistik, Beatboxing, Comedy, Break- und Pole-Dance-Besen. Besen, seid’s gewesen, allein was pantomimisch aus einem einfachen Besen an Interpretationen rausgeholt wird, sorgt für Staunen und die Sangeskunst macht so manches Damenherz schwach. Unfassbare Körperbeherrschung, perfekt synchronisierte Abläufe, toll modifiziertes Timing von hyperaktiv bis Slowmotion und Freeze machen sprachlos.
Ein tolles Highlight am Eichbrunnenplatz sind die Canavaltwins: Michael und Florian Canaval sind echte Zwillinge, Wahl-Berliner und original, österreichische Charmebolzen. Ihre Kunst ist jung, dynamisch & perfekt. Kraftvolle Rhythmen und zarte Cello-Klänge werden mit temporeicher Jonglage kombiniert.
Optische Hingucker und immer wieder gern gesehen ist die „TukkersConnection“ aus den Niederlanden. Gelebter Surrealismus, wenn so winzige Meerestiere wie Seepferdchen zu Reitpferdgröße mutieren und sich darauf zwei mittelalterlich gewandete Ritter durch den Besucherstrom treiben lassen. „Hippocampus“ nennt sich der Walk-Act, der gern für Selfies bereitsteht. Selbst zum Hingucker wird, wer sich unter den kreativen Händen der Maskenbildner „Osadia“ aus Spanien schminken und frisieren lässt. Ganz im Stil barocker Opulenz werden aus alltäglichen Besucherköpfen beeindruckende Kunst-Werke. Vorsicht Suchtgefahr: Einige, die sich schon vor zwei Jahren hatten stylen lassen, fielen als Wiederholungstäter auf.
Witzig sind die polnischen „Muzikanty“, die mit Schlagzeug, Geige, Klarinette und viel Selbstgebasteltem dem Publikum eine musikgeschichtliche Lektion erteilen, bei denen das Publikum hin und wieder einstimmen darf. Tolldreist ist das Duo „Happy Face“ aus Frankreich, die mit „Steig aus dem Fenster und renn“ den stereotypen Stolperer des Clowns zum inszenierten Crash ausbauen. Mittels Katastrophe wird theatraler Perfektionismus subversiv überwunden. Absolut irrwitzig!
Aberwitzig ist der Filmdreh „Am laufenden Band“ von und mit This Maag, zu dem der Schweizer Slapstick-Komiker und Multitasking-Man mit „EU-zertifiziertem Humor“ (Programmheft) sechs Personen aus dem Publikum castet. Zwei groß gewachsene Männer halten mit ihrer Körperspannung den Hintergrund, zwei Kinder – eins spielt den brüllenden Vorspann-Löwen, das andere bedient die Klappe und einen Föhn, mit dem ein Sturm simuliert wird, der zum Absturz eines Flugzeugs führt – und ein Paar, mit dem der Komiker vor wechselnder Kulisse (Berglandschaft, Wüste, Südseestrand) ein Dramolett präsentiert. „Vergesst nicht, der Film ist für Arte“, will sagen Hochkultur! Straßentheater als Hochkultur, das ist genial – und keiner tanzt aus der Reihe, wenn er ruft: „Und Action!“
Und bei all der hochwertigen Kultur sind natürlich auch die Geschäfte der Brackenheimer Innenstadt mit an Bord. Im Rahmen eines verkaufsoffenen Sonntags freuen Sie sich über den großen Zuspruch der Gäste. Das Publikum wird zu Kunden. Sehenswert im Alten Dekanat sind die Ausstellungen von Wachstafelobjekten des Künstlers Jan M. Petersen, Wortbildkunst von SAXA, PEANUTS-Motiven, hochwertigen sowie handgefertigen Gitarren und Holz-Skulpturen. Und weil am Sonntag auch "Tag des offenen Denkmals" ist lädt Dekanats-Eigentümer Reinhard Rieger gleich zwei Mal zu Führungen unter dem Denkmal-Motto "Wahr-Zeichen. Zeitzeugen der Geschichte" ein.
Neun Ensembles, die innerhalb von sechs Stunden auf sechs Locations mehrmals auftreten, geplant waren 23 Auftritte, davon drei Stunden nonstop „Hair Sculptures“ made by Osadia. Organisatorisch und logistisch eine Meisterleistung der Veranstalter, namentlich der ehrenamtlichen Mitarbeiter/-innen des Kulturforums. Dass fünf der 23 Auftritte wetterbedingt buchstäblich ins Wasser gefallen sind, ist zwar bedauerlich, schmälert aber nicht den Eindruck, dass körperlich robustes, dennoch feinsinnig kritisches Straßentheater der literarischen Hochkultur längst das Wasser reichen kann.
Die Stadt Brackenheim dankt allen Akteuren, insbesondere natürlich den Aktiven des Kulturforums, für diese tolle Veranstaltung und das damit verbundene herausragende ehrenamtliche Engagement!